Von Lee Yu Kyung, Seoul 15.04.2013 / Ausland
Gewöhnung oder Ausweglosigkeit: In Südkorea verläuft das Leben bisher in gewohnten Bahnen
»Natürlich, ich bin sehr besorgt über die Verschärfung der Lage. Mein Wohnort liegt näher an Nordkorea als an Gangnam, dem südlichen Distrikt von Seoul«, sagt Lee Jung Eun, Mutter zweier Kinder, die in Paju lebt, etwa 20 bis 30 Kilometer von Käsong im Norden entfernt. Dort in Käsong war vor einem Jahrzehnt die gemeinsame Industriezone, kurz KIZ, als Frucht der »Sonnenscheinpolitik« zwischen beiden koreanischen Staaten entstanden. »Wenn ich nachts irgendein Geräusch höre, schrecke ich auf. Unwillkürlich beschleicht mich die Furcht vor einem Krieg«, beschreibt Frau Lee ihre Stimmung. Noch mehr erschrak sie, als ihre Söhne fragten: »Mama, ist es wahr, dass es Krieg gibt?«
Lehrer und Eltern in Seoul berichten, dass Krieg oder Nichtkrieg ein Thema ist, das viele Kinder bewegt. »In meiner 5. Klasse haben die Schüler über den Krieg gesprochen. Und sie haben mich nach einem möglichen Raketenabschuss des Nordens gefragt«, bestätigt der Lehrer Kim Jeong Mi.
Trotz heimlicher oder offen geäußerter Befürchtungen gibt es jedoch keine sichtbare Unruhe in der Hauptstadtregion, die im Ernstfall das erste Angriffsziel wäre. »Wenn die Leute an einem Kriegsausbruch zweifeln, setzen sie wahrscheinlich darauf, dass China Einfluss nimmt«, sagt Ha Nam Seok, China-Wissenschaftler an der Hankuk-Universität. Gefragt, was er selbst im Kriegsfall zuerst tun würde, antwortet er: »Daran will ich gar nicht denken!«
Han Man Song, Reporter einer Lokalzeitung in Intschon, befürchtet: »In einem so dicht besiedelten städtischen Großraum findet man nirgends Schutz.« Und das ist die Sorge fast aller Gesprächspartner, erst recht für den Fall eines Atomkriegs, wie er oft beschworen wird. Die liberale Zeitung »The Hankyoreh« berichtete am Sonnabend, dass nur 0,02 Prozent der Bevölkerung Zuflucht in einem von ganzen 15 atomsicheren Bunkern fänden.
Dennoch scheint das Leben seinen normalen Verlauf zu nehmen, vielleicht auch, weil die Südkoreaner sich an Drohungen aus dem Norden gewöhnt haben. Die Kriegskorrespondenten, die nach Seoul geeilt waren, sind jedenfalls enttäuscht: Niemand stürmt die Supermärkte, um Lebensmittelreserven für den Notfall anzulegen. »Es gibt Leute, die Tabakwaren in Mengen kaufen, weil Preiserhöhungen erwartet werden, aber sonst nichts«, berichtet Choi Yun Shil. eine Japanischlehrerin, die sich kaum besorgt zeigt. Was sie bedauert, ist die Schließung der Industriezone Käsong. »Das war ein Ort, wo Nord und Süd zusammenkamen und sich ohne ideologischen Druck austauschen konnten«, seufzt Frau Choi.
In gewisser Weise hat die Schließung der KIZ dem einfachen Südkoreaner die Krise deutlicher vor Augen geführt als die oft besprochenen Raketenstarts und Atomtests. Eine Gruppe von Unternehmern, die sich in der vergangenen Woche aus der Indu-striezone zurückziehen mussten, plant – wie berichtet wird – für die nächsten Tage einen Besuch im Norden, um die Lage um die KIZ zu entspannen. »Ich denke, die Schließung hätte vermieden werden können«, sagt auch Jeong Young Woo, Professor der Nationaluniversität Intschon, »Vermutlich wurde sie durch die unzeitgemäßen Berichte der ›Chosun-ilbo‹ ausgelöst, obwohl ich auch nicht ausschließe, dass der Norden das alles vorgeplant hatte.«
Tatsache ist, dass die konservative Zeitung »Chosun-ilbo« getönt hatte, der Norden werde die Zone nicht schließen, denn sie bringe dem armen Land eine Menge Dollars ein. Und um die Sache noch zu verschlimmern, hatte Verteidigungsminister Kim Kwan Jin verkündet, die Sicherheitskräfte stünden bereit, Südkoreaner aus der Zone zu befreien, sollten sie dort als Geiseln gehalten werden. Ein Teil der Öffentlichkeit ist deshalb überzeugt davon, dass es solche beleidigenden Töne waren, die den Entschluss des Nordens provoziert haben.
»Meiner Ansicht nach geht die Regierung von Präsidentin Park Geun Hye umsichtiger an das Problem als die ihres Vorgängers Lee Myung Bak, der jegliches Erbe der Sonnenscheinpolitik verspielt hat. Aber durch harsche Reaktionen hat auch das Park-Regime die Lage verschlimmert. Wir brauchen mehr Zuckerbrot statt Peitsche«, glaubt der Oppositionsabgeordnete Moon Byung Ho von der Vereinigten Demokratischen Partei.
Derweil fordern viele einen Dialog mit dem Norden. In der Erklärung eines »Gemeinsamen Treffens der Zivilgesellschaft für Frieden und Kooperation auf der Koreanischen Halbinsel«, die am vergangenen Donnerstag veröffentlicht wurde, heißt es: »Wir als die direkten Opfer der Militarisierung und der Verschärfung der Spannungen auf der Halbinsel wollen, dass das 60. Jahr des Waffenstillstandsabkommens (von 1953 – d. Red.) zum ersten Jahr einer Friedensregelung wird.«
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